Deutsche Türkeipolitik unter Merkel: eine kritische Bilanz
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Ob Forderungen des türkischen Staatspräsidenten nach Bluttests für türkeistämmige Bundestagsabgeordnete oder Nazi-Vergleiche aus Ankara: heute sind die deutsch-türkischen Beziehungen an einem historischen Tiefpunkt angekommen und das Vertrauensverhältnis ist weitestgehend zerrüttet.
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Mit Blick auf die angekündigte Neuausrichtung der deutschen Türkeipolitik vom 20. Juli 2017 ist zudem noch unklar, in welche Richtung sich das bilaterale Verhältnis zwischen Berlin und Ankara langfristig entwickeln wird. Was die europäisch-türkischen Beziehungen angeht, gleichen sie schon jetzt einem Scherbenhaufen. Das war nicht immer so: Der Zeitraum von der Anerkennung der Türkei als offiziellem EU-Beitrittskandidat bis zur Eröffnung von Beitrittsverhandlungen (1999-2005) umfasst nicht nur die goldenen Jahre der europäisch-türkischen, sondern auch die der deutsch-türkischen Beziehungen. Die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder/Fischer war damals treibende Kraft dieser Entwicklung.
Nach dem deutschen Regierungswechsel 2005 und dem Amtsantritt von Bundeskanzlerin Merkel wurde die Türkei größtenteils wieder ihrem eigenen Schicksal überlassen, obwohl es auf kurze Sicht gar nicht um die EU-Mitgliedschaft der Türkei, sondern um die Demokratisierung und Modernisierung des Landes ging. Insbesondere Paris und Berlin hatten die Türkei immer wieder zurückgewiesen – selbst zu einem Zeitpunkt, zu dem sich das Land in Richtung Demokratie entwickelte. Damit tragen Deutschland und die EU eine Mitverantwortung an der aktuellen Krise mit der Türkei und dem Vertrauensverlust zwischen Ankara und dem Westen. Wenn Berlin heute so wenig auf Ankara einwirken kann, dann steht das auch im Zusammenhang mit der fehlenden konzeptionellen Türkeipolitik der Bundesregierung Merkel, die im Weiteren einer kritischen Bilanz unterzogen wird.
Sowohl Merkel als auch Erdoğan verpassten mit ihrer fehlgeleiteten Türkei- beziehungsweise Europa-Politik eine historische Chance. Die deutsche Bundeskanzlerin verlor durch den unglaubwürdigen Ansatz einer „privilegierten Partnerschaft“ den Einfluss auf ein derart wichtiges Land wie die Türkei, die sich in der Flüchtlingsfrage zu einem Schlüsselland entwickelte. Staatspräsident Erdoğan hingegen vertat mit seiner sunnitisch-islamischen Ausrichtung der Außenpolitik die Chance, sein Land zu einem Modell für den Nahen Osten aufzubauen, das Islam und Demokratie harmonisch miteinander verbindet und damit internationales Ansehen genießt.
Redaktionsschluss für diese Note du Cerfa war im Juli 2017.
Rosa Burç ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sie lehrt und promoviert am Lehrstuhl für Regierungslehre.
Burak Çopur ist promovierter Politikwissenschaftler, Türkei-Experte und Migrationsforscher und lehrt am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.
Dieser Artikel kann ebenfalls in französischer Sprache gelesen werden: La politique turque de l'Allemagne sous Merkel : un bilan critique.
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