Suche auf ifri.org

Über ifri

Häufige Suchanfragen

Suggestions

Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa

Externe Artikel
|
Date de publication
|
Image de couverture de la publication
couv_apuz_ndeg17.2023.jpg
Accroche

Seitdem Olaf Scholz angesichts des russischen Angriffs auf die gesamte Ukraine von einer "Zeitenwende" sprach, blicken Deutschlands internationale Partner erwartungsvoll nach Berlin. Wie steht es um das Bild Deutschlands in der Ukraine, Polen, Frankreich und den USA?

Image principale
eric-andre_martin_ifri_nb_2.jpg
Corps analyses

"Frankreich und Deutschland tragen gemeinsam die Verantwortung dafür, das Projekt eines geeinten und souveränen Europas zu bekräftigen." Mit diesen Worten fasste Frankreichs Präsident Emmanuel Macron anlässlich der Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags zusammen, was seit seinem Amtsantritt 2017 im Mittelpunkt seines Handelns in Europa und in Bezug auf Deutschland steht: die Entwicklung einer gemeinsamen Agenda, die zugleich Impulse für die bilaterale Zusammenarbeit setzt, die Position Europas auf der Weltbühne stärkt und es diesem Europa ermöglicht, den Herausforderungen von morgen zu begegnen – eine ehrgeizige europäische Agenda also, zu deren Prioritäten die Stärkung der europäischen Souveränität zählt. Ihr zugrunde liegt die Auffassung, dass die wichtigsten Herausforderungen, denen sich Europa in den vergangenen Jahren gegenübersah, von globaler Dimension sind. Dieses Postulat wiederum erfordert ein Überdenken des Projekts Europa vor dem Hintergrund seiner Beziehungen zur übrigen Welt. Es gilt, eine Agenda zu entwerfen, dank derer Europa seine Souveränität durch Initiativen in sechs Handlungsräumen stärken kann, die Macron als wesentliche Elemente zeitgenössischer Macht identifiziert: Sicherheit und Verteidigung, Migration und Grenzen, ökologischer Wandel, digitale Transformation, Ernährungssouveränität, wirtschaftliche und industrielle Macht. Letztlich laufe dieses Bestreben auf eine Neugründung Europas hinaus, bei der der ursprüngliche Fehler des europäischen Projekts behoben würde: der Verzicht auf Macht, der eine notwendige Voraussetzung für die europäische Einigung war. Die Umsetzung von Macrons Projekt hängt von einem deutsch-französischen Kern und dessen Fähigkeit ab, eine treibende Kraft für Europa zu entfalten.

Gleichwohl kann aber auch die Beständigkeit, mit der Macron dieses Ziel vertritt, nicht über die geringen Fortschritte hinwegtäuschen. Zwar hat die deutsch-französische Zusammenarbeit einige Durchbrüche auf europäischer Ebene ermöglicht, wie zum Beispiel das europäische Aufbauinstrument "Next Generation EU" für die Zeit nach Covid-19. Doch die verhaltene Reaktion Berlins auf die inhaltlichen Vorschläge Macrons für Europa hat auf französischer Seite zu einer gewissen Frustration geführt, die mitunter in Überdruss und sogar Ressentiments umschlug. Auf deutscher Seite sorgten zum einen die Alleingänge des französischen Präsidenten in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik für Verärgerung, zum anderen, dass man vom Partner vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Während Deutschland einen institutionellen Ansatz vorzog, um die Rolle der EU und der Nato in Sicherheitsfragen zu stärken, verfolgte Frankreich mit Blick auf Libyen und die Türkei eine sehr auf die eigenen nationalen Interessen fokussierte Politik. Den Höhepunkt dieser Differenzen markierte zweifellos die Aussage des französischen Präsidenten zum "Hirntod" der Nato.

Paradoxerweise führen die wiederholten Krisen der vergangenen Jahre und vor allem der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine aber klar vor Augen, dass die EU die einzig richtige Ebene ist, um den Herausforderungen entgegenzutreten, denen Frankreich und Deutschland gegenüberstehen. Dieser Konflikt wird tiefgreifende Konsequenzen für die EU nach sich ziehen, und vor dem Hintergrund der Polykrise und Ressourcenknappheit kommt die Versuchung wieder auf, "rette sich, wer kann" zu denken und eine Jeder-für-sich-Haltung einzunehmen. Daher stellt sich die Frage, wie Frankreich und Deutschland die Zukunft für sich selbst, aber auch für die EU und die internationale Ordnung sehen. Welchen Platz nehmen die Partner in der Vorstellung ein, die der andere sich von seiner eigenen Zukunft macht?

 

Der Krieg als asymmetrischer Schock

Seit Beginn des Krieges in der Ukraine dreht sich die öffentliche Diskussion in Deutschland um die "Zeitenwende". Berlin ist gezwungen, das Land aus der Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, vor allem vom russischen Gas, zu befreien und die Dekarbonisierung der deutschen Wirtschaft voranzutreiben, um die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts Deutschland zu sichern. Die aktuelle Krise wirft in Deutschland existenzielle Fragen auf. Berlin muss unter Zeitdruck sein Wirtschaftsmodell überdenken und so gestalten, dass es Wohlstand und Sicherheit zugleich gewährleisten kann – und das, während die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie gefährdet ist. Zur Auflösung der Fußnote[3] Bundeskanzler Olaf Scholz muss sowohl der Bevölkerung als auch den Wirtschaftskreisen ein Gefühl der Sicherheit vermitteln und gleichzeitig die bisweilen abweichenden Ansichten seiner Koalitionspartner ausbalancieren.

In Frankreich gestaltet sich die politische Debatte um den Krieg in der Ukraine einvernehmlicher. Geschützt durch den verfassungsrechtlichen Status der Außen- und Verteidigungspolitik als "domaine réservé" des Staatspräsidenten, also als ein ihm vorbehaltener Bereich, bewahrt sich Macron einen breiten Handlungsspielraum und bleibt weitgehend von Kritik verschont. Aus französischer Sicht bestätigt der Krieg in der Ukraine die Dringlichkeit einer Stärkung der europäischen Souveränität. Auch hat Frankreich im Rahmen der Krisenbewältigung nicht die Hemmschwellen zu überwinden, denen sich Berlin gegenübersieht. Das gilt insbesondere für Waffenexporte oder Versuche, Gespräche mit dem russischen Präsidenten zu führen. Für Paris wirft der Konflikt Deutschland auf grundlegende Fragen zurück, die zu lange auf die lange Bank geschoben wurden: Berlin muss den offenkundig gewordenen Widerspruch überwinden, eine technologisch und wirtschaftlich erfolgreiche Großmacht sein zu wollen, auf geopolitscher Ebene aber unbedeutend zu sein. Es gilt, die Fähigkeiten und die Ausrüstung des deutschen Militärs weiterzuentwickeln und zu verbessern. Berlin muss nicht nur in die Sicherheit des Landes investieren, sondern auch die Abhängigkeit von bestimmten ausländischen Märkten verringern. Zudem drängt die gegenwärtige Krise zu einem Überdenken der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten im wirtschaftlichen und finanziellen Bereich, um die Entstehung einer wahrhaft europäischen Industriepolitik zu ermöglichen. Die Verabschiedung des Inflation Reduction Act in den USA unterstreicht das Risiko, dass europäische Unternehmen ihren Standort verlagern und die europäischen Wirtschaftssysteme aufgrund der steigenden Energiekosten an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Nur mit einer Antwort auf europäischer Ebene wird es möglich sein, die für den digitalen Wandel und die Energiewende notwendigen Technologien souverän und nachhaltig zu entwickeln.

Im Hinblick auf die Beziehung zu Berlin ist die französische Sichtweise ambivalent. Einerseits sieht Paris darin eine Gelegenheit, Deutschland für seine europäische Agenda zu gewinnen, in deren Mittelpunkt das erklärte Ziel einer größeren strategischen Autonomie steht, insbesondere gegenüber den USA und China. Angesichts einer deutschen Haltung, die als zögerlich oder unentschlossen wahrgenommen wird, ist Frankreich versucht, den eigenen Vorteil zu suchen und Berlin dazu zu bewegen, Entscheidungen zu treffen, die den französischen Vorstellungen entsprechen. 

Andererseits ist sich Frankreich der Tatsache bewusst, dass die Erschütterung durch den Krieg Berlin mit der Zeit dazu bewegen könnte, seine Stellung in Europa neu auszurichten und sich von Paris zu distanzieren. Das rührt an alte französische Ängste und die Sorge, dass Berlin seine Rolle als wohlwollender Hegemon aufgeben könnte, um eine auf die eigenen nationalen Interessen ausgerichtete Agenda zu verfolgen und eine härtere Gangart bei Themen einzulegen, die für Paris zentral sind. Hierzu zählen die Bereitstellung von Mitteln auf europäischer Ebene, die zur Überwindung der Energiekrise und der Kriegsfolgen notwendig sind, die Reform der europäischen Institutionen, die Erweiterung der EU sowie die transatlantischen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund wurden bestimmte Beschlüsse der Bundesregierung in Frankreich als eine Tendenz Berlins interpretiert, im Alleingang zu handeln, etwa die China-Reise von Bundeskanzler Scholz nach der Wiederwahl von Xi Jinping zum Staats- und Parteichef – zu einem Zeitpunkt, als die europäischen Partner sich mit der Frage beschäftigen, wie auf den autoritären Kurs des chinesischen Regimes zu reagieren sei. Hinzu kamen die unkooperative Haltung in der EU-Haushaltsdebatte und Deutschlands Widerstand gegen den europäischen Gaspreisdeckel.

Gleichzeitig stehen die deutsch-französischen Unstimmigkeiten bei Energiethemen, militärischen Angelegenheiten und Handelsfragen konkreten Fortschritten in der bilateralen Zusammenarbeit im Weg. Das zeigen zum Beispiel die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit dem Rüstungsprojekt Future Combat Air System oder der geplanten Gaspipeline aus Spanien durch Frankreich.

 

Moment der Wahrheit für gemeinsame Ambitionen

Im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und seinen Folgen für Europa ist es Deutschland und Frankreich nicht gelungen, als treibende Kraft zu wirken und die anderen EU-Mitgliedstaaten und die Kommission für eine gemeinsame Agenda zu gewinnen. Dabei ist jetzt nicht die Zeit für Selbstreflexion, Konkurrenzdenken oder gar Schuldzuweisungen, sondern es sind Taten gefragt. Wie die beiden Länder die Folgen des Krieges bewältigen, wird von entscheidender Bedeutung für den Zusammenhalt der EU sein.

Das gilt umso mehr, als die deutsch-französische Autorität in den Augen einiger EU-Mitglieder angeschlagen ist, weil Paris und Berlin die Gefahr eines Krieges mit Moskau unterschätzt und die Warnungen Polens oder der baltischen Staaten vor Russland ignoriert haben. Dieser Autoritätsverlust wird sich in verschiedenen Bereichen bemerkbar machen: zunächst in der Veränderung des militärischen Gleichgewichts in Europa – Polen verfolgt das Ziel, die stärkste Landstreitkraft Europas zu werden, das Vereinigte Königreich hat durch die frühzeitige und bedingungslose Unterstützung der Ukraine an Einfluss gewonnen, und die Türkei behauptet ihre Militärmacht; des Weiteren in der Kritik am übermäßigen Einfluss Frankreichs und Deutschlands auf die europäische Politik, die bei den geplanten Reformen der europäischen Institutionen Vorsicht erforderlich macht, vor allem mit Blick auf das Einstimmigkeitsprinzip. Letztlich könnten die politischen Ereignisse des Jahres 2024 die Karten in Europa neu mischen, wenn das Europäische Parlament gewählt und die Europäische Kommission abgelöst wird, aber auch die Präsidentschaftswahlen in den USA stattfinden.

[...]

 

Eric André Martin ist Generalsekretär des Studienkomitees für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) am Institut français des Relations internationales (IFRI) in Paris.

 

  • Dieser Artikel wurde in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Nr. 17, April 2023 (S. 10-12) veröffentlicht. 

>> Der Beitrag ist auf der Website der Aus Politik und Zeitgeschichte​ (APuZ) zum Download zur Verfügung <<

 

 

Decoration

Inhalte verfügbar in :

Teilen

Laden Sie die vollständige Analyse herunter

Auf dieser Seite finden Sie eine Zusammenfassung unserer Arbeit. Wenn Sie mehr Informationen über unserer Arbeit zum Thema haben möchten, können Sie die Vollversion im PDF-Format herunterladen.

Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa

Decoration
Author(s)
Photo
Éric-André MARTIN

Éric-André MARTIN

Intitulé du poste
Verwandte Zentren und Programme
Weitere Forschungszentren und Programme
Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa)
Accroche centre

Das Studienkomitee für deutsch-französische Beziehungen (Cerfa) wurde 1954 durch eine zwischenstaatliche Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gegründet, um die Kenntnisse über Deutschland in Frankreich zu vertiefen und die deutsch-französischen Beziehungen, einschließlich ihrer europäischen und internationalen Dimensionen, zu analysieren. Durch seine Konferenzen und Seminare, die Experten, politische Entscheidungsträger, hochrangige Funktionäre und Vertreter der Zivilgesellschaft beider Länder zusammenbringen, fördert das Cerfa die deutsch-französische Debatte und regt politische Vorschläge an. Es veröffentlicht regelmäßig Studien in zwei Reihen: den « Notes du Cerfa » und den « Visions franco-allemandes ».

Das Cerfa unterhält enge Beziehungen zu deutschen Stiftungen und Think Tanks. Neben seiner Forschungs- und Debattenarbeit fördert das Cerfa die Entstehung einer neuen deutsch-französischen Generation durch originelle Kooperationsprogramme. So führte das Cerfa 2021-2022 ein Programm über Multilateralismus in Zusammenarbeit mit der Konrad-Adenauer-Stiftung in Paris durch. Dieses Programm richtete sich an junge Fachkräfte aus beiden Ländern, die sich im Rahmen ihrer Tätigkeiten für die Herausforderungen des Multilateralismus interessieren. Es umfasste eine breite Palette von Themen im Zusammenhang mit Multilateralismus, wie internationalen Handel, Gesundheit, Menschenrechte und Migration, Nichtverbreitung und Abrüstung. Zuvor hatte das Cerfa am deutsch-französischen Zukunftsdialog teilgenommen, der von 2007 bis 2020 gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und mit Unterstützung der Robert Bosch Stiftung geleitet wurde, sowie an der Gruppe Daniel Vernet (ehemals Deutsch-Französische Reflexionsgruppe), die 2014 auf Initiative der Stiftung Genshagen gegründet wurde.

Image principale

Wartet Frankreich auf Friedrich Merz?

Date de publication
18 Februar 2025
Accroche

In den vergangenen Wochen hat sich Friedrich Merz wiederholt für eine engere deutsch-französische Zusammenarbeit ausgesprochen. Wie viel Veränderung könnten seine Appelle tatsächlich bewirken?

Image principale

Bündnis 90/die Grünen als Bündnispartei? Das Ende einer Illusion

Date de publication
13 Februar 2025
Accroche

Auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Wiesbaden im November 2024 kürten die Delegierten Robert Habeck zum Kanzlerkandidaten für die vorgezogenen Bundestagswahlen am 23. Februar 2025. Die vor fünfundvierzig Jahren gegründete Protestpartei ist heute fest in der deutschen politischen Landschaft etabliert. Nach dem Zusammenbruch der Ampelkoalition setzen die Grünen auf einen personalisierten Wahlkampf und bedienen einen optimistischen Diskurs, der auf die Gewährleistung eines guten, sozialen und gerechten Lebens ausgerichtet ist.

Annette LENSING
Image principale

Der Aufstieg der AfD und die Wahl der Radikalität

Date de publication
12 Februar 2025
Accroche

Nach ihrer Gründung 2013 hat sich die AfD im Zuge von Krisen kontinuierlich radikalisiert. Seit dem massiven Zustrom von Migranten nach Deutschland 2015/2016 positioniert sie sich als virulente Anti-Migrationspartei und baut ihre Stellung im politischen System Deutschlands, insbesondere in den Parlamenten, stetig aus. Zwar ist sie vor allem in den östlichen Regionen, wo sich ihre wichtigsten Hochburgen befinden, stark verankert, doch zieht sie auch im Westen immer mehr Wählern an. Dies geschieht vor dem Hintergrund einer globalen Normalisierung der extremen Rechten und eines nationalen Kontextes, der von einer starken wirtschaftlichen und politischen Destabilisierung geprägt ist. 

Valérie DUBSLAFF
Image principale

Die FDP vor den deutschen Bundestagswahlen: Eine Partei im Kampf ums Überleben

Date de publication
11 Februar 2025
Accroche

Die Freie Demokratische Partei (FDP), die sich vor den vorgezogenen Wahlen 2025 in großen Schwierigkeiten befindet, versucht nach dem Zerbrechen der Koalition mit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und den Grünen wieder auf die Beine zu kommen. Durch ihre zwischen Regierung und Opposition schwankende Positionierung hat sie an Glaubwürdigkeit verloren und kämpft darum, die Fünf-Prozent-Hürde zu erreichen. 

How can this study be cited?

Image de couverture de la publication
couv_apuz_ndeg17.2023.jpg
Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa, from Ifri von
Kopieren
Image de couverture de la publication
couv_apuz_ndeg17.2023.jpg

Das Ende des wohlwollenden Hegemons? Die Achse Paris-Berlin in Europa